Hammerhart: Verdon Canyon Challenge

Ein Lauf in der größten Schlucht Europas

Teilnehmer: Hans-Peter Gieraths (AK 45) und Rolf Wäsche (AK 65), LT SV Westum

Start und Ziel der Herausforderung, Europas größte Schlucht in einem „Lauf“ zu bewältigen, war Aiguines in der Provence. 102 km und 6000 Höhenmeter galt es zu bewältigen. Das Zeitlimit betrug 34 Stunden. Als Voraussetzung für den Lauf mussten mehrere schwere Ultra-Marathonläufe absolviert worden sein. Als Ausrüstung war unter anderem vorgeschrieben: 2 Liter Wasser, Handy, Trillerpfeife, Rettungsdecke, Stirnleuchte und Identitätsnachweis.

Das vorgeschriebene Material wurde bei der Startnummernausgabe sorgfältig geprüft. Das gab den beiden Lauftrefflern zu denken. Noch in Deutschland hatte Hans-Peter Gieraths dem 20 Jahre älteren Rolf Wäsche versprochen, diesen über die gesamte Strecke zu begleiten. Bei der Pastaparty am Abend vor dem Start wurde bei einer schmackhaften Lasagne und französischem Rotwein noch einmal die Absprache zur gegenseitigen Unterstützung bekräftigt. Um 04.00 Uhr am Samstagmorgen war ein nochmaliges Briefing der Starter vorgesehen. Bis spätestens 04.30 Uhr hatten sich alle Teilnehmer mit hochkonzentrierten Gesichtern eingefunden und um 05.00 Uhr wurde das Signal zum Start gegeben. In zunächst ruhigem Tempo ging es durch den noch nächtlichen Ort. Doch schon am Ortsrand musste sofort ein sehr steiler Anstieg gemeistert werden. Nach ca. 30 Minuten bildete sich auf einem schmalen Pfad eine längere Schlange und es ging nur noch im Schritttempo voran. Stirnleuchten erhellten den Weg. Rolf Wäsche hatte schon gleich zu Anfang Probleme mit der Funktionsfähigkeit seiner Lampe, was zügiges Vorankommen behinderte, doch das Morgengrauen machte sie bald überflüssig.

Nach kurzer Zeit auf dem „Trail“ waren die Aktiven bereits nass geschwitzt, so dass ein kurzer Nieselregen angenehme Abkühlung brachte. Den beiden Westumer Läufern, die immer in Sichtkontakt miteinander blieben, wurde zunehmend klar, dass es sich bei dieser Strecke weniger um einen „Lauf“ als um eine sehr anspruchsvolle Kletterpartie handeln würde, und dass es darum ging, überhaupt und möglichst ohne Blessuren ins Ziel zu kommen. Die erste Verpflegungsstation erreichten die Lauftreffler nach mehr als 10 km in 2:40 Stunden.

Im Weiteren war das Terrain von Fels, aber auch von besonderen, teils wohlriechenden Pflanzen bestimmt. Kleine Hochflächen in der Streckenführung ermöglichten kurze Laufabschnitte. Aber die Organisatoren hatten dann sofort wieder steile Bergauf- oder Bergabpassagen eingeplant, was die Erholungsmomente stark verkürzte. Ein kurzer Blick hinunter in die bizarre Welt der Schlucht oder zum Lac de Ste. Croix in der Ferne entschädigten die Teilnehmer für die Anstrengungen.

Rolf W. und Hans-Peter G. stellten mehrfach fest, dass die Höhepunkte Schweizer Bergmarathons hier wie an einer Schnur aufgereiht erfolgten. Im Bereich der Schlucht bestanden die Anforderungen an die Läufer z. B. darin, in ca. 50 Meter Höhe über dem tosenden Wasser des Gebirgsflusses mehrere 100 m auf einem 20-30 cm breiten Pfad entlang zu klettern und als einzige Sicherung ein am Fels befestigtes Stahlseil zur Verfügung zu haben. An diesem hielt man sich mit schweißnassen Händen fest - gleichzeitig mussten noch die Stöcke gehalten werden - und schaffte sich so, Kopf zur Wand, Meter für Meter voran.

Schließlich blickte man dann aber doch in die Schlucht zum sprudelnden, grünen Wasser und zu den tonnenschweren, rund geschliffenen Felsbrocken hinunter, denn genau deswegen war ja diese Strecke auch so reizvoll.

An weiteren, neuralgischen Punkten stand Sicherungspersonal, das eher psychologische Beruhigung ausstrahlte. Denn im Falle eines Fehltritts oder Loslassen des Stahlseils hätte nur noch ein Hubschrauber den dann durch den Sturz in die Tiefe Schwerverletzten in angemessener Zeit bergen können.

Ein weiterer “Höhepunkt“ nach einem längeren, kräftezehrenden Aufstieg war ein drahtiger Helfer auf einem kleinen Felsabsatz, der mit einer drehenden Kopfbewegung schweigend nach oben wies. Es war aber kein Weg, sondern nur das Ende eines Stahlseiles zu erkennen, das irgendwo ins Nichts zu führen schien. Da es kein Zurück mehr gab, hieß es nur sich hoch zu ziehen und gut festzuhalten, um so den Weg fortzusetzen. Im weiteren Parcours waren am Felsen schräg verlaufende oder senkrecht befestigte Leitern fast ein Vergnügen. Später endete der Weg an einem Felsüberhang. Nur ein im Fels verankertes Stahlseil und ein Rettungsposten, der ein zusätzliches Sicherungsseil gespannt hatte, halfen über diese schwierige Stelle hinweg.

Bergab ging es ca. 500 m in einer Steinmoräne in die Schlucht hinab. Weitere Verpflegungsstellen waren bei km 27 und 37 aufgebaut. Getränke und feste Nahrung waren optimal, so dass kaum auf die eigene, vorgeschriebene Verpflegung zurückgegriffen werden musste. Im weiteren Verlauf der Strecke überwanden die zwei Westumer umgestürzte Bäume und massige Steine, wobei ihnen Brocken bis 50 cm zunehmend lästig, noch größere aber zur Qual wurden. Bergab waren die Stöcke eine unerlässliche Hilfe, um die Knie zu entlasten, in manchen Situationen aber auch hinderlich.

Nach rund 35 km und einer Laufzeit von ca. 9 Stunden in diesem herausfordernden Gelände spürte Rolf W. seine Kräfte zunehmend schwinden. Einmal vom Kurs abgekommen zu sein und langsam zu den letzten Läufern zu zählen, bedeutete eine zusätzliche, psychologische Belastung. Hans-Peter Gieraths, deutlich leistungsstärker, zeigte sich als vorbildlicher „Bergkamerad“. Er achtete stets auf eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme und suchte mehrfach als „Scout“ den Laufweg, der trotz im Prinzip guter Markierung durch den Veranstalter für die beiden Läufer nicht immer leicht zu finden war. An der Verpflegungsstation bei km 37 hatten die Westumer einen Zeitpuffer von über 2 Stunden herausgeklettert, aber noch war weit mehr als die Hälfte der Strecke zu bewältigen. Gegen 21 Uhr wurde es in dieser Region dunkel. Rolf W. erlebte zum ersten Mal Blasen an den Füßen und Krämpfe in den Beinen beim Ausrutschen im Geröll. Aber noch zwang der Kopf den Körper weiter. Im kameradschaftlichen Wettstreit mit zwei italienischen Läufern ging es hinab zum See.

Wo der Fluss Verdon in den See einmündet, überquerten die Läufer eine Brücke. Kanus und Touristen boten einen entspannten Anblick, doch für die Athleten tickte die Uhr unbarmherzig weiter. Nach dieser kurzen Idylle führte der Pfad wieder steil bergauf. Auf dem Weg zum nächsten Verpflegungspunkt entschied sich Rolf W. nach nüchterner Analyse seines Kräftehaushaltes dafür, seinen Lauf noch vor Einbruch der Nacht zu beenden, um kein unnötiges Risiko für sich selbst einzugehen oder zur Last für seinen begleitenden Laufkameraden oder die inzwischen aufgetauchten „Lumpensammler“ zu werden.

Hans-Peter nahm darauf Tempo auf und setzte seinen Lauf fort, während Rolf seine aktive Teilnahme nach 47 km und einer Zeit von 13:08 Stunden bei der nächsten Verpflegungsstelle beendete und von einem Mitarbeiter mit einem Auto nach Aiguines zurück gefahren wurde. Später war zu erfahren, dass 40% aller Starter die Ziellinie nicht erreicht hatten. Hans-Peter G. entschied sich, nach Einbruch der Dunkelheit mit einer sich noch “im Rennen“ befindlichen englischen Läuferin gemeinsam ins Ziel zu laufen, eine weitere Engländerin schloss sich beiden an. Auch hier musste Hans-Peter Gieraths die Frauen zum Durchhalten ermuntern und ihnen beistehen. Als der zweite Morgen graute, wurde die Müdigkeit bei allen dreien fast übermächtig und „Sekundenschlaf“ setzte ihnen immer öfter zu. Doch noch immer zwangen die Köpfe die sichtlich erschöpften Körper voran, denn nun kurz vor dem Ziel, wollte keiner mehr aufgeben.

Kurz vor Mittag entdeckte dann die kleine Gruppe vom See her aufsteigend den Zielort. Noch einmal mussten viele Höhenmeter überwunden werden, bevor das Schloss von Aiguines als markanter Punkt in der Nähe des Zieles mühsam Schritt für Schritt erreicht wurde. Noch einmal straffte die Gruppe ihre Körper und setzte ein Lächeln auf. Dann endlich passierte sie den Zielbogen nach einer Gesamtzeit von 31:28 Stunden. 102 km und 6000 Höhenmeter waren bewältigt!

Die Finisher umarmten sich erleichtert und wurden von Rolf Wäsche, der sie schon erwartet hatte und ihnen zeitweise entgegen gegangen war, zu Ihrer Leistung beglückwünscht. Es folgte ein offizielles Foto und eine Begrüßung durch den Veranstalter per Lautsprecher. Die Organisatoren hatten keine Medaillen- oder Urkundenübergabe vorgesehen. Doch am wichtigsten waren jetzt der Stolz und die Zufriedenheit, diese große Herausforderung gemeistert zu haben. Nach einer längeren Phase der Erholung zogen in einem ausführlichen Gespräch noch einmal die gemeinsamen Erlebnisse dieser unvergesslichen Erfahrung an beiden Westumer Lauftreffler vorüber, und sie waren sicher, etwas Herausragendes erlebt zu haben.